Beim Suchen nach einem alten Text, den ich irgendwann vor etwa 15 Jahren für meinen Blog geschrieben habe, fiel mir ein Titel auf, von dem ich wusste, dass er nicht von mir ist. Als ich die Datei aufrief, sah ich, dass dieser inzwischen so aktuelle Text von meiner inzwischen 94jährig verstorbenen Freundin Lydia Grabenkamp (Journalistin) stammt, die damals hochbetagt bei ihrer Tochter im Bergischen Land lebte. Sie schrieb an ihrem neuen Wohnort für die örtliche Seniorenzeitung so manche ihrer Erinnerungen auf.
Da sie keine Enkel hatte, wurde ihr nach und nach klar, dass nach ihrem Ableben vermutlich niemand Interesse an ihrem literarischen Nachlass haben wird und sie fing an, mir den einen oder anderen Text zu schicken mit der Bitte, ihn in meinen Blog aufzunehmen. Diesen Text hatte ich aber anscheinend übersehen und bin nun um so mehr überrascht, dass er jetzt aktueller ist als je zuvor. Deshalb poste ich ihn heute und ich bin mir sicher, dass Lydia Grabenkamp sich darüber freuen würde, wenn auch nicht über die Tatsache, dass es inzwischen wieder so weit ist, dass in einem Land in Europa Menschen den Weihnachtsabend in Kellern verbringen müssen, um sich vor Bomben zu schützen.
Hier die Erinnerungen von Lydia Grabenkamp
Weihnachten, ein Zauberwort. Glitzernder Schimmer, nicht greifbare Verheißung von etwas Schönem, das es doch geben müsste, auch mitten im Krieg. 1942. Es gibt es nicht. Im bitterkalten Winter, im Ruhrgebiet, in Nazi-Deutschland. Achtzehnjährige Abiturienten werden als Kanonenfutter in die Schneewüsten Russlands gejagt, ihre Mütter, Väter und Schwestern in stummer Verzweiflung dem Bombenkrieg ausgesetzt. Wollt ihr Kanonen statt Butter, schreiben Göring, Goebbels und der „größte Führer aller Zeiten“ im Radio. Ihre Reden hört Deutschland durch Lautsprechen, auch in den Schulzimmern. Wir lernen für das Abitur, müssen alles können. Kein Pardon, auch wenn wir die halbe Nacht im Luftschutzkeller sitzen. Ich bin siebzehn Jahre alt. Ich zittere um meine Brüder – der eine in Russland, der andere in Rommels Afrika-Corps vorEl Alamein. Am 6. Dezember 1942 schreibt Willi (18) aus der Kalmückensteppe am Jaschkul: „Ich lief zu Fuß hierhin in meinen Tanzstundenschuhen. In diesem furchtbaren Schnee und Eis. Heute holte ich mir von einem toten Russen ein Paar Filzstiefel. „
„Gott sei Dank, er lebt noch“ sagen wir. Am 20. Dezember klingeln zwei ernste Männer in SA-Uniform bei uns. „Wir möchten ihre Eltern sprechen“. Ich rufe sie und verdrücke mich. Da höre ich ein kurzes Wimmern. Den hellen, scharfen Klageton meines Vaters, den ich nie vergessen werde. Willi ist gefallen. Der Kompaniechef schreibt „durch Volltreffer in den Unterstand blieb nichts von ihm“. Wir erhalten seinen restlichen Wehrsold. Die Eltern sind versteinert. Wir trauern wortlos, hoffnungslos, verständnislos. Wir dürfen nichts gegen die Nazis sagen, das könnte böse Folgen haben. Jeden Morgen kommen ausgemergelte Häftlinge in gestreiften Anzügen, die bloßen Füße in Holzpantinen, scheu an unserem Haus vorüber zum Bombenräumen. Wir legen ihnen leicht erreichbar Brot auf die Fensterbank. Wir wissen Bescheid.
Mein Bruder Ernst (23) ist in Afrika vermisst. Ich werde geschickt, ein Seelenamt für Willi zu bestellen. Ich hoffe auf Trost, auf ein gutes Wort. Stattdessen höre ich nur: „Also, das Seelenamt kostet acht Mark, mit Musik 16 und mit Geläute 20 Mark.“ Das sagt der dicke Pfarrer. Mir stockt der Atem. Ich lege ihm den Umschlag hin. „68 Mark, Willi’s letzter Wehrsold. Nun. Das wird ja wohl reichen“. Das mit dem Pastor sage ich nicht zu Hause! Da ist schon wieder Fliegeralarm. Wir schnappen unsere Notkoffer. Rennen in den Keller. Gewaltige Detonationen. Der Boden des Kellers springt in die Höhe. 20 Leute sitzen stumm und leichenblass. Christa, 20 , fängt an, hysterisch zu schreien. Meine Mutter, die fünf Kinder erzog, steht schweigend auf und knallt ihr eine, setzt sich hochaufgerichtet wieder hin. Jetzt ist Ruhe. Wir sticken weiter an nutzlosen Sofakissen.
Seit Wochen hüten wir einen kleinen Weihnachtsbaum auf dem Balkon. Am 24. Dezember stecke ich ein paar Kerzen darauf und stelle Papierteller mit aufgedruckten Tannenzweigen auf den Esszimmertisch. Die „Sonderzuteilung“ pro Person eine Apfelsine und sechs Nüsse, legt Mutter darauf. „Heute gibt es keinen Alarm“, sagt Vater. „Lasst uns früh zu Bett gehen“. Wir nehmen unsere Wärmflaschen und verschwinden wortlos. Am Schlafzimmerfenster sind Eisblumen. Bizarr und schön, und kalt wie das ganze Universum.
Gra © 2014
Es ist schwer, zu akzeptieren, dass jetzt, im Jahr 2023, schon fast ein Jahr lang ein neuer Krieg tobt, der von einem verantwortungslosen Agressor aus unverständlichen Gründen angefangen wurde.
Das angegriffene Land, die Ukraine, wehrt sich bis jetzt tapfer. Viele Menschen sind wieder auf der Flucht . Wie konnte es dazu kommen, obwohl doch alle Menschen auf der Welt den Wunsch haben und hatten: „Nie wieder Krieg“! Es möge sich alles zum Guten wenden im neuen Jahr!
E.Z.©2023 Foto: Rudi Struck