Zufallsgeschichte und Zeitgeschichte an einem sonnigen Herbsttag

Gedenkstein f. die, die kein Grab fanden

Denkmal für unbekannte Tote auf Jüd. Friedhof Mannheim, Foto: Privat

Ich habe normalerweise Freude an Zufallsgeschichten, wie in meinem Blog ja auch ab und zu zu lesen ist, denn abgesehen von denen, die sich in meinem eigenen Leben ereignen, berichten mir meine Freunde gerne über Zufälle in ihrem Alltag. Zufallsgeschichten waren allerdings nicht mein Thema in den vergangenen Monaten. Um so mehr war ich erstaunt, dass sich gestern so nebenbei wieder eine ereignet hat. Seit Wochen habe die Absicht,  auf den hiesigen Jüdischen Friedhof zu gehen, um Fotos für ein Projekt zu machen, an dem ich mich beteiligen werde. Leider war das Wetter nie zum Fotografieren geeignet oder ich hatte keine Zeit.

Gestern, am 22. Oktober, kam am Nachmittag überraschend die Sonne heraus, ein sonniger, klarer Herbstnachmittag kündigte sich an. Ich beschloss, alles liegen und stehen zu lassen und sofort loszulaufen, um das gute Wetter zum Fotografieren zu nutzen. Mehr als zwei Stunden verbrachte ich auf dem großen, alten und trotzdem auch „neuen“ Friedhof. Er hat nämlich einen neuen Teil, der auch noch für Bestattungen genutzt wird. Je länger ich dort war, je mehr bedrückte mich das Wissen um die Tatsache, dass von Mannheim aus sehr viele Juden in ein Internierungslager nach Gurs (in den Pyrenäen) verschleppt wurden, wo sie entweder durch Hunger oder Grausamkeiten umkamen oder 1942 nach Auschwitz-Birkenau verlegt wurden. Ein genaues Datum wusste ich  nicht.

Vor Jahren hatte ich in der Tageszeitung gelesen, dass die Stadtverwaltung ein eigenes Gräberfeld zum Gedenken für die Verstorbenen im Lager Gurs angelegt hat. Von Mannheim aus waren über 6000 Juden aus der Pfalz, Nordbaden und dem Saarland verschleppt worden, es waren also nicht nur Mannheimer Bürger. Ich fand die schlichten Granitplatten, las die Namen – und die Freude am schönen Wetter ging dahin. Nachdem ich noch das Grabmal für die Toten, die kein eigenes Grab gefunden haben, fotografiert hatte, ging ich etwas betrübt nach Hause. Dort wollte ich mich ablenken und beschloss, endlich die Tageszeitung zu lesen, wofür ich vorher noch keine Zeit gefunden hatte. Und mein Blick fällt zufällig auf eine einspaltige, nicht einmal besonders auffällige Notiz. Es wurde eine kleine Gedenkfeier am Gedenk-Kubus  in der Innenstadt angekündigt für die nach Gurs verschleppten etwa 2400 Juden aus Mannheim. Ich erfuhr nun, dass diese schändliche Aktion ohne jede Vorwarnung  am 22. Oktober 1940 stattgefunden hatte. 

DIGITAL CAMERA Gedenkplatte für ein Opfer von Lager Gurs, Foto: Privat E.Z.

Der Zufall hatte mich also am 22. Oktober auf den Jüdischen Friedhof geführt. Ich hatte bis jetzt nicht gewusst, wann genau diese Transporte waren. Wie schön, dass mich der Zufall wieder einmal zur rechten Zeit an den rechten Ort geführt hatte, gerade am 22.10.2013. Ich hatte Gelegenheit, der Toten zu gedenken, indem ich wegen der Fotos den Jüdischen Friedhof besucht hatte. Und natürlich nicht nur wegen der Fotos, denn wer geht denn schon nur wegen Fotos an einem sonnigen Herbsttag auf den Friedhof?

Auf dem christlichen Friedhof daneben waren viele Besucher unterwegs und nutzten den Sonnentag für einen kleinen Besuch an den Gräbern. Viele hatten schon den Blumenschmuck dabei für die Gedenktage um den 1. November herum. Blumenschmuck ist auf Jüdischen Friedhöfen nicht üblich. Aber man legt Kieselsteine auf die Grabsteine. Die Friedhofsgärtner haben für die Besucher ein großes Gefäß mit Steinen auf einer Bank deponiert. Ich entdeckte sie und legte den einen oder anderen Stein auf ein Grabmal, das mir besonders aufgefallen war.

Weiteführende Informationen zu Gurs:

wikipedia.org/wiki/Camp_de_Gurs#Heimatl.C3.A4nder_der_Gefangenen_in_alphabetischer_Reihenfolge.3B_Gr.C3.BCnde_f.C3.BCr_die_Internierungen

Allerheiligen, Allerseelen

Allerheiligen, Allerseelen

 

 

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Ob man will oder nicht, man wird in diesen Tagen mit den „letzten Dingen“ konfrontiert. Ein im Kalender verankerter Gedenk- und Trauertag nach dem anderen lässt uns einen Moment innehalten. Viele wissen nicht mehr, wie es zu diesen staatlich oder kirchlich verordneten Gedenktagen gekommen ist. Wie dem auch sei, die  Gedenktage Volkstrauertag und Allerheiligen  sind Jahr für Jahr Anlass, um über die „richtige“ Art des Trauerns zu diskutieren. Die Traditionsbewussten schmücken die Gräber

Traditionelles Familiengrab

Traditionelles Familiengrab

mit Blumen und Lichtern; sie brauchen einen festen Ort für die Zwiesprache mit ihren Verstorbenen. Andere tragen das Andenken an ihre Lieben im Herzen, belächeln das Treiben auf den Friedhöfen und bleiben ihnen fern. Wieder andere stehen ratlos vor Urnen-Sammelgräbern und können nur ahnen, wo sich die Urne mit den Überresten ihres Angehörigen befindet. Wenn es sich um eine Seebestattung handelte, ist ein Gedenktag eher ein Tag der Erinnerung an das nicht so alltägliche Erlebnis, die Asche eines Lieben dem Meer und den Wellen zu übergeben. Das Gedächtnis ersetzt den festen Ort. In nicht allzu ferner Zukunft werden einige wenige ihren Blick zum Weltraum erheben müssen, wohin sich ihre zahlungskräftigen Verstorbenen verbringen ließen. Diese Blickrichtung war früher die vertraute, wenn auch aus anderen Gründen. Gut finde ich, dass nun auch totgeborene Kinder oder Kinder, die unmittelbar nach der Geburt keine Lebenschance hatten, einen Platz auf vielen Friedhöfen

gefunden haben. „Sternenfeld“ und ähnlich heißen diese Gemeinschaftsgräber. In kindlicher Weise können Geschwister hier kleine Zeichen der Erinnerung hinterlassen, oft in Form von Schmetterlingen oder Sternen, die an einer Stele angebracht werden können. Dass es so lange gedauert hat, bis Friedhofsordnungen geändert und Gewohnheiten verändert werden konnten, ist eher beschämend, als erfreulich. Im Großen und Ganzen finde ich, dass alle Formen der Bestattungs- und Trauer-Rituale respektiert werden sollten, denn jeder Mensch ist ein Individuum – auch über den Tod hinaus. Das Bestattungsgewerbe hat diesen Trend inzwischen erkannt und bietet immer häufiger sehr auf die Wünsche des Verstorbenen eingehende Begräbnisse und Gedenkfeiern an. Oft sind es aber auch die Angehörigen, die sehr originelle Ideen einbringen, um dem Leben und dem vermuteten Willen des Verstorbenen gerecht zu werden. So wird man sich nach und nach an so manche Überraschungen gewöhnen müssen. Ich hoffe sehr, dass dabei die Grenzen des guten Geschmacks nicht zu sehr überschritten werden – . Ein liebevoll ausgedachtes Ritual, das die Hinterbliebenen noch einmal für kurze Zeit gedanklich und handelnd mit dem Verstorbenen in Kontakt bringt, ist meiner Ansicht nach immer noch besser als eine in allen Teilen vorgefertigte und völlig unpersönliche Trauerhandlung. Wobei ich die auf christlicher Tradition gewachsenen Rituale noch am leichtesten akzeptieren kann, da sie sich im Prinzip darauf berufen, dass es in unserem Leben nur eine Gewissheit gibt, nämlich die Tatsache, dass der Mensch sterblich ist. Aus dieser Gewissheit sind die Gedenktage im November entstanden – noch lange, bevor sie zu willkommenen arbeitsfreien Tagen und Einkaufsevents wurden.

 

 

 

Fotos: Privat